Der Digitalisierungsdruck die Energiebranche wirkt vor allem aus zwei Richtungen. Die Politik verfolgt das Ziel, Infrastruktur und Prozesse durch gesetzliche Rahmenbedingungen umfassend digital zu sanieren. MaKo 2020, GDEW und Co. lassen grüßen. Aber auch die Marktdynamik selbst hält zahlreiche Herausforderungen bereit. Neue Wettbewerber drängen in den Markt und setzen hohe Maßstäbe in Sachen Schnelligkeit, Innovation und Kundenorientierung. Mit jüngeren Zielgruppen rücken digitale Vertriebsmodelle und Kommunikationskanäle zusehends in den Vordergrund. Eine zügige Umstellung ist daher für EVU jeder Größe ratsam.
Digitalkur für die Energiebranche
Um Kundinnen und Kundne zu begeistern und dabei die Effizienz zu steigern, ist der richtige Blickwinkel auf die Chancen durch den digitalen Wandel unerlässlich. Viele Energieversorger und Stadtwerke versuchen, den traditionell analogen Prozessen einen digitalen Anstrich zu verpassen und denken, dies sei ausreichend. Sie setzen auf Webportale zur Kundenselbstablesung oder versenden Rechnungen per E‑Mail und heben dabei nur einen Teil der Potenziale, die eine ganzheitliche Digitalkur bieten würde.
Für den Kundinnen und Kunden mag das EVU so auf den ersten Blick digital wirken, während die Prozesse im Hintergrund nach altehrwürdiger Logik weiterlaufen. Eine Digitalisierungsstrategie, die diesen Namen auch verdient, verfolgt jedoch auch ganz klar das Ziel, diese Geschäftsprozesse bestmöglich zu automatisieren und einen aussagekräftigen Datenpool zu schaffen. Stichwort: Big und Smart Data! Daten sind bekanntermaßen das Öl des 21. Jahrhunderts und von großem Nutzen, wenn es darum geht, neuen Geschäftsfelder zu erschließen.
Als effiziente Digitalisierungsinitiative können EVU beispielsweise einen Chatbot als neuen Kommunikationskanal implementieren. Das nützt der Customer Experience, denn der Bot ist rund um die Uhr verfügbar und bearbeitet Kundenanliegen vollautomatisch, umgehend und umfassend – bei Bedarf auch mehrsprachig. Servicemitarbeiter müssen sich nicht länger mit Zählerstandmeldungen oder Abschlagsanpassungen aufhalten und können sich verstärkt auf komplexe Aufgaben konzentrieren.
Hierfür gelten jedoch einige Voraussetzungen:
- Der Chatbot muss intelligent und lernfähig sein. Das bedeutet, dass der Bot aus Beispielen lernt und die Lernergebnisse verallgemeinern kann. Er erkennt Muster und Gesetzmäßigkeiten und kann so auch unbekannte Daten beurteilen.
- Anbindung an eine expandierende Wissensdatenbank, in der erlernte Antworten und Erkennungsmuster gespeichert und wieder abgerufen werden.
- Systemschnittstellen, damit der Bot Kundendaten automatisch einpflegen und abrufen kann.
Wenn diese Bedingungen erfüllt sind, lässt sich das gesamte Potenzial des Chatbots ausschöpfen. Kundenkontakte lassen sich maximal ausnutzen und kurzangebundene Monologe in erkenntnisreiche Interaktionen verwandeln. Durch die fortlaufende Analyse der gewonnenen Daten können Kundenwünsche antizipiert, maßgeschneiderte Angebote positioniert und neue Umsatzpotenziale – beispielsweise durch Cross-Selling-Maßnahmen – erschlossen werden.
Zielgruppengerechte Digitalisierungsstrategie
So wichtig eine fundierte Digitalisierungsstrategie sein mag, um mit dem Markt schrittzuhalten, so zentral ist es, bei der Umsetzung das nötige Fingerspitzengefühl an den Tag zu legen. Beim Schlagwort Digitalisierung drängt sich automatisch das Bild einer technikaffinen Zielgruppe auf: die Digital Natives der Generationen Y, Early Adopters und junge, innovationsbegeisterte Trendsetter. Wahrscheinlich gibt es jedoch kaum eine Branche, in der dieses Bild so sehr trügt, wie im Energiebereich. Die Zielgruppen von Energieversorgern und Stadtwerken sind höchst heterogen und decken beinahe alle Altersgruppen und quasi alle sozialen Schichten ab.
Da die Technikaffinität aber stark von Status und Alter abhängt sind EVU gut beraten, nicht direkt zum digitalen Kahlschlag der klassischen Kundenkanäle anzusetzen. Laut einer aktuellen Bertelsmann-Studie ist es zum Beispiel um die digitale Kompetenz einer Mehrheit der Senioren in Deutschland nicht besonders gut bestellt. Unter den 60- bis 69-Jährigen fühlen sich nur 41 Prozent sicher oder sehr sicher im Umgang mit dem Internet. Bei den über 70-Jährigen trifft dies sogar nur auf jeden Dritten zu.
Konsequenterweise dürfen EVU die Klassiker nicht außeracht lassen, um die Generation älterer Bestandskunden nicht zu verprellen. Die ältere Dame mit Dackel aus dem dritten Stock wird kaum das Smartphone zücken, um den aktuellen Zählerstand zu übermitteln und anschließend die Jahresendabrechnung aus der Cloud abzurufen.
Ablesekarten und Sichtablesung haben noch lange nicht ausgedient. Die Post ist nach wie vor ein wichtiger Versandweg. Was jedoch nicht heißt, dass es hier keine Chancen zur Digitalisierung gibt. Mithilfe digitaler Tools lassen sich beispielsweise Druck und Versand von Anschreiben, Ableseanleitung sowie Ablesekarte automatisieren. Der Rücklauf wird anschließend im Scan-Center erfasst und die Netto- und Bilddaten vollautomatisch über standardisierte Schnittstellen in den digitalen Prozess integriert.
Hier zeigt sich, dass es für eine erfolgreiche Digitalisierungsstrategie grundlegend ist, die Abläufe im Back-End zu digitalisieren. So lassen sich analoge Kanäle effizient einbinden und der Übergang in die digitale Welt für technikferne Zielgruppen sanft gestalten. Die ältere Dame wird dem Anbieter diese Umsichtigkeit vielleicht nicht danken. Wahrscheinlich bekommt sie davon überhaupt nichts mit. Sie wird aber auch nicht völlig überfordert an der digitalen Selbstablesung verzweifeln und nach einem desaströsen Kundenerlebnis zum nächstbesten Versorger wechseln, der nach wie vor freundliche Mitarbeiter zur Sichtablesung entsendet. Stattdessen geht alles seinen gewohnten Gang. Die Dame freut sich sogar über die übersichtliche Jahresendabrechnung, die sie dank individualisiertem Layout endlich versteht, während das EVU Effizienzgewinne durch optimierte Prozesse verzeichnet. So funktioniert bewusste Bestandskundenpflege.
Ausgewogenes Transformationsmanagement
Lange Rede, kurzer Sinn: Die Energiebranche steht vor der komplexen Herausforderung, den massiven Digitalisierungsdruck ausgewogen zu managen, um so ihrer Kundschaft in ihrer gesamten Vielfallt gerecht zu werden. Wer das Front-End von null auf hundert digital umstellt, läuft Gefahr, Kundschaft zu verschrecken. Stattdessen empfiehlt sich ein breiter Ansatz, bei dem interne Geschäftsprozesse digitalisiert und klassische Kanäle integriert werden. Ergänzt durch ein innovatives Angebot für technikaffine Kundinnen und Kunden, an das der Rest schrittweise herangeführt wird – beispielsweise durch informierende Beilagen zur Jahresendabrechnung.
Gerne beraten wir Sie hierzu näher.
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